Eisprinzessin Ute

Kurzgeschichte

Eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben, ist gar nicht so einfach. Vor allem nicht bei 36° im Schatten. Schwitzend starre ich auf den Bildschirm und lese die letzte Zeile des Briefings: „Lassen Sie den Leser die klirrende Kälte spüren.“ Nachdenklich schaue ich durch das weit geöffnete Fenster. Hier finde ich Ablenkung. Ute, die Eisverkäuferin treibt da unten wieder ihr Unwesen. Seit heute morgen steht sie auf dem Parkplatz in ihrem Eiswagen mit der Aufschrift: „Bei Ute gegessen, niemals vergessen!“. Mein Arbeitskollege Holger, der sich bei ihr eine Salmonellenvergiftung eingefangen hat, kann dies nur bestätigen.

„Hörnschen oder Bescher?“ dringt es bis zu mir hoch. Ihre beiden Terrier scheinen sich in der Einkaufstüte einer Kundin festgebissen zu haben. Da schießt mir eine Frage in den Sinn: Was macht Ute eigentlich im Winter? Ohne sie aus den Augen zu lassen, lege ich meine Arme auf die Fensterbank und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Plötzlich ist mir alles klar: Ich glaube, Ute ist eine Eisprinzessin.

Heimlich verbringt sie die kalten Wintertage in ihrem Eiswagen, irgendwo mitten in der Antarktis. Klirrende Kälte umgibt sie an langen, stürmischen Winterabenden. Oft sitzt sie am Fenster und sieht dem Tanz der Schneeflocken zu. Ihr bläulich schimmerndes Diadem spiegelt sich in der Scheibe. Ihre einzigen Gefährten in dieser endlosen Weite sind ein Einhorn mit Namen „Hörnschen“ und ein weißer Löwe, den sie liebevoll „Bescher“ nennt. Die Gefährten ähneln in Gestalt und Wesen zwei wild gewordenen Terriern. Hier wartet Ute geduldig auf ihre Bestimmung. Winter für Winter. Manchmal dauert es Monate bis es so weit ist. Dann dreht sie Pirouetten auf dem glitzernden Eis. Die weiße Welt verleiht ihr eine Beweglichkeit, die sie wie von Zauberhand über das gefrorene Wasser gleiten lässt. Wenn sie dann am Abend wieder in ihrem Eiswagen sitzt, um die Schneeflocken zu beobachten und ihr Haar ein wenig wüst aussieht von den vielen Pirouetten, dann ist sie glücklich.

 

 

An einem dieser Abende ist es wieder soweit. Es klopft. Drei mal. So wie jeden Winter. Und herein tritt ein schwarz gekleideter Mann. Ohne sie anzusehen oder ein Wort zu verlieren, legt er eine Liste auf die Kühltruhe und verschwindet. Seit seinem Bandscheiben-Vorfall ist Knecht Ruprecht nicht mehr im Stande, die komplette Liste der Menschen alleine zu bearbeiten. Er benötigt die Hilfe von Ute, der Eisprinzessin. Aufmerksam liest sie die vielen Namen und deren Betragungsnoten. Immer das gleiche Spiel. Liebe Kinder bekommen im Sommer eine extragroße Portion Eis mit Schlagsahne. Böse Kinder bekommen eine extragroße Portion Eis mit Salmonellen. Auch Kinder über dreißig, wie Holger. Sie haben dann zwei Wochen lang Zeit über ihr Verhalten nachzudenken. Sitzend.
Ute sieht ein letztes Mal aus dem Fenster. Dann nimmt sie ihr Diadem vom Kopf und streicht sich die Haare glatt. Es ist Zeit, zu gehen.

Als ich am nächsten Tag meiner Chefin gegenüber sitze, blickt sie mich erwartungsvoll an. Dann wandert ihr Blick über meine Headline. „Eisprinzessin Ute?“. Nach einer langen, unangenehmen Pause fragt sie fassungslos: „Ist das Ihr Ernst?“
Den Auftrag habe ich nicht bekommen. Aber immer, wenn mich Ute vor die Wahl stellt: „Hörnschen oder Bescher?“ kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen und frage mich innerlich: „Bist du denn auch brav gewesen?“


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